Die Aussicht von Stefano Gervasoni – eine Hölderlin-Vertonung im Lichte Roman Jakobsons, by Ute Schomerus
Kaum einem Dichter ist in den vergangenen Jahrzehnten so große Aufmerksamkeit durch Komponisten zuteil geworden wie Friedrich Hölderlin (1770-1843). Die Hölderlin-Rezeption lässt sich auf keinerlei gemeinsamen Nenner bringen, sie wird wechselnd durch das Interesse an biografischen, inhaltlichen, sprachlichen oder auch entstehungsgeschichtlichen Aspekten geleitet. Nicht selten ist es die Faszination angesichts der 37-jährigen Isolation des geisteskranken Hölderlin in seinem Tübinger Turmzimmer, die die Annäherung an den Dichter prägt; sie wird als Bild für die Situation des Künstlers innerhalb der Gesellschaft oder auch für die Lebenssituation des modernen Menschen gedeutet. Das Augenmerk kann auf konkrete Inhalte gerichtet sein, etwa Hölderlins Begeisterung für die Ideen der Französischen Revolution oder aber seine philosophisch fundierte Religiosität. Immer wieder tritt Hölderlins berühmte Gestalt der Diotima in den Vordergrund des Interesses – literarische Verarbeitung seiner Frankfurter Geliebten Susette Gontard und dichterische Kunstfigur zugleich. Als Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dem deutschen Dichter fungiert bisweilen auch Hölderlins feinsinniger Umgang mit den klanglichen Aspekten seines Materials, die viel beschworene Musikalität seiner dichterischen Sprache als solche. Erhebliche Anziehungskraft besitzt schließlich die Gebrochenheit des Schaffensprozesses, Hölderlins work-in-progress-Verfahren, seine ständigen Variantenbildungen und seine ausgeprägte Affinität zum Fragmentarischen, eindrucksvoll dokumentiert durch die neue Frankfurter Ausgabe (dieser Aspekt lockte gerade in den achtziger Jahren viele Komponisten zur Auseinandersetzung mit dem Dichter und seinem Werk).
Stefano Gervasonis Zugriff auf Hölderlin lässt sich mit seltener Exaktheit bestimmen: Die bereits 1985 während der Kompositionsstudien bei Luca Lombardi entstandene Vertonung von Hölderlins letztem, 1843 geschriebenem Gedicht
Die Aussicht besitzt ihren Anknüpfungspunkt in der hochartifiziellen sprachlichen Gestaltung der späten Dichtung Hölderlins. Greifbar wird dieser Ansatz besonders, wenn man den Sekundärtext berücksichtigt, durch den er vermittelt und geprägt ist, nämlich Roman Jakobsons strukturalistische Analyse der
Aussicht. Jakobsons in Zusammenarbeit mit Grete Lübbe-Grothues verfasste Studie („Ein Blick auf
Die Aussicht von Hölderlin“, 1976) deckt in einer minuziösen Untersuchung des sprachlichen Materials die Konstruktionsprinzipien des Gedichtes auf, ermittelt regelhafte innere Bezüge, Parallelen und Symmetrien. Dichtung wird von Jakobson als „Wortkunst“ im eigentlichen Sinne verstanden: Als Sprachwissenschaftler geht er von der Prämisse aus, dass der semantische Gehalt eines Gedichtes allein unter Berücksichtigung der sprachlichen Gestalt, der Grammatik und Klanglichkeit, zu erschließen sei.
Entsprechend legt auch Gervasoni einen Schwerpunkt auf sprachliche und strukturelle Merkmale der dichterischen Vorlage, ohne dabei jedoch die Ebene der direkten Text- bzw. Wortausdeutung aus den Augen zu verlieren: Eine unmittelbare musikalische Nachzeichnung der Textbedeutung wird beispielsweise in der amotivisch-statischen, mit Rallentando versehenen Instrumentalbegleitung zum Verb „verweilt“ greifbar, der zum nachfolgenden Verb „vorübergleiten“ eine dichtere, rhythmisch und melodisch konturiertere Begleitung gegenübertritt („poco più mosso“); ähnlich fasslich ist auch das hohe Register in Gesangsstimme und Instrumenten bei den Worten „des Himmels Höhe“, kontrastiv zu der Umsetzung der Wendung vom „dunklen Bilde“. Jenseits der wahrnehmbaren Textausdeutung ist hinter der akkuraten kompositorischen Berücksichtigung der formalen Aspekte des Gedichtes jedoch bereits die Analyse Jakobsons zu erahnen. Die Zweistrophigkeit ist durch ein viertaktiges Tacet der Sängerin zwischen den beiden Strophen unterstrichen. Dem einzigen Enjambement am Übergang zwischen den beiden letzten Versen wird dadurch entsprochen, dass allein an dieser Stelle in der Gesangsstimme keine Pause zwischen den Versen notiert ist. Sehr deutlich ist überdies in der gesamten
Aussicht die Umsetzung der Paarreime durch übereinstimmenden melodischen Verlauf der jeweils durch Reimwörter verbundenen Versenden. Oft unterstreicht Gervasoni von Jakobson herausgestellte Wortwiederholungen und -verwandtschaften durch melodische Korrespondenzen. Auch komplexere Zusammenhänge transferiert er in seine Vertonung. So trägt sich etwa die von Jakobson hervorgehobene syntaktische Spiegelsymmetrie zwischen erstem und letztem Vers der zweiten Strophe in die Vokalmelodik hinein: Die „beinahe gleichklingenden Verben“ (Jakobson) „ergänzt“ und „umkränzet“, die die Abverse dieser Zeilen eröffnen bzw. beschließen, sind durch den Intervallsprung as-b1 in Übereinstimmung gebracht, und entsprechend der Beobachtung, dass „das direkte Objekt dem ersten Verb [‘ergänzt’] folgt und dem zweiten [‘umkränzet’] vorausgeht“, geht auch musikalisches Material, das dem Verb in der ersten Zeile der zweiten Strophe folgt, in der letzten Zeile dem abschließenden Verb voraus.
Handelt es sich bei diesen Beispielen um sehr geradlinige Verbindungen zwischen Textstruktur und Musik, sind für die Komposition insgesamt gerade indirekte Umsetzungen charakteristisch. Als Beispiel kann bereits Jakobsons Erläuterung zum Goldenen Schnitt in Hölderlins
Aussicht gelten. Durch die Spannung zwischen statischer Zweistrophigkeit und Goldenem Schnitt misst Jakobson dem ersten Vers der zweiten Strophe – der das erste, längere Glied der goldenen Reihe (den so genannten Major) beschließt und zugleich die zweite Strophe eröffnet – eine exponierte Stellung bei: „Dieser Vers [‘Daß die
Natur ergänzt das Bild der Zeiten’] ist unzweifelhaft der semantische Mittelpunkt der Ganzheit, ein Vers, der die maßgebende Idee der Natur hervorhebt […].“ Gervasoni übernimmt diese Schwerpunktsetzung nicht etwa, indem er die proportionalen Verhältnisse des Gedichtes auf seine Komposition überträgt (schon ein Instrumentalabschnitt von über 60 Takten vor Einsatz der Stimme und 40 abschließende Instrumentaltakte stehen dem genauen Nachvollzug der Längenverhältnisse entgegen). Er verleiht diesem Vers dadurch eine herausgehobene Stellung, dass er ihn ohne Instrumentalbegleitung allein in der Stimme erklingen lässt. Gervasoni vollzieht Jakobsons Bewertung der Schlüsselstellung des Verses also mit einem eigenen Gestaltungsmittel nach.
Gervasonis Stück folgt der Analyse Jakobsons auch dort, wo diese den sicheren Boden philologischer Bestandsaufnahme verlässt und sich – wenn auch oft überzeugend durch den vergleichenden Blick auf andere Werke gestützt – dem Bereich des Hypothetischen nähert. Den eklatantesten Fall, der die Relevanz der Jakobson-Analyse für Gervasonis
Aussicht manifest werden lässt, stellt die Einführung Diotimas dar. Diotima ist im Gedicht nicht explizit erwähnt, doch die These von ihrer „heimlichen Anwesenheit“ ist zentraler Bestandteil von Jakobsons Gedichtanalyse. Jakobson stützt sie insbesondere auf die Feststellung zahlreicher „d“-Alliterationen (z.B. „daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten“), die in anderen Werken Hölderlins gezielt in Zusammenhang mit Diotima auftreten, sowie auf die Zunahme des Femininums als grammatischem Geschlecht in der zweiten Strophe des Gedichtes (insbesondere sind alle fünf Subjekte weiblich): Die abstrakten Feminina „Natur“ – auch sonst von Hölderlin immer wieder mit Diotima assoziiert – und „Vollkommenheit“ seien direkt mit Diotima in Verbindung zu bringen. Die Deutung dieser Merkmale in Bezug auf Diotima erfolgt vor dem Hintergrund ausführlicher Überlegungen Jakobsons zu Hölderlins spätesten Lebensjahren, die durch die Preisgabe bzw. Tabuisierung konkreter, dialog- und situationsbezogener Sprache gekennzeichnet sind, und so auch durch den generellen Verzicht auf Namensnennungen (Hölderlins „Scardanelli“-Unterschrift, mit der er die späten Gedichte versieht, sowie die fingierten Entstehungsdaten, die oft außerhalb der eigenen Lebenszeit liegen, sind Ausdruck dieses gebrochenen Realitätsbezuges). Die Grundannahme von Jakobsons Gedichtinterpretationen gilt so im Falle von Hölderlins Spätwerk in besonderer Weise: Die unmittelbare, inhaltliche Äußerung wird – so Jakobson – durch abstrakte Strukturen substituiert, das Wortmaterial selbst habe folglich als Schlüssel zum Bedeutungsgehalt des Gedichtes zu gelten.
Gervasoni findet eine kompositorische Lösung, um Jakobsons These von Diotimas „heimlicher Anwesenheit“ in sein Werk zu integrieren. Ausgehend von Jakobsons Überlegungen zum Decknamen „Scardanelli“ und dessen Beziehungen zum Namen „Hölderlin“ – die weitgehend in anagrammatischen Verbindungen der Namen nach dem jeweils ersten Vokal liegen – wählt Gervasoni ein System zur melodischen Umsetzung beider Namen, das auch deren Entsprechungen gerecht wird: Wie eine Kompositionskizze offenbart, wählt er eine auf c2 ansetzende, aufwärtsgerichtete Quartkette mit regelmäßiger Oktavversetzung (
c2-f2-b1-es2-as1-des2 etc.) und weist diesem Quartenzirkel, fortgesetzt bis zur Quart
as-des1, Ton für Ton die Buchstaben des Alphabets zu (
c2 = A, f2 = B, b1 = C etc.). Die aus der Ton-Buchstaben-Zuordnung gewonnenen melodischen Verläufe der Namen liegen weiten Teilen der Komposition zugrunde, insbesondere ist die Vokalmelodik durch den Namenszug Scardanelli geprägt (dem Umstand entsprechend, dass Hölderlin sich hinter dem Decknamen „Scardanelli“ verbirgt). Im Rahmen dieses Ton-Buchstaben-Systems führt Gervasoni nun auch den Namen „Diotima“ in seine Komposition ein, und zwar exakt für den Versabschnitt „ist aus Vollkommenheit“. Dabei erklingen die Töne
cis und
d, die im Namenszug Diotimas auftauchen, auf „Vollkommenheit“ (
c1-cis1-e1-d1-c2) innerhalb der Vokalpartie zum ersten Mal; über die abstrakte Ableitung hinaus verbindet sich also auch eine musikalisch wahrnehmbare Komplettierung des Tonbestandes mit dem Wort „Vollkommenheit“.
Die „heimliche Anwesenheit“ Diotimas, die Jakobson in den grammatischen Strukturen des Gedichtes verborgen sieht, findet so ein musikalisches Korrelat in dem von Gervasoni in seine Komposition integrierten Namen der Geliebten, der mit dem Schlüsselbegriff der Vollkommenheit gekoppelt wird. Diotimas Anwesenheit in den musikalischen Strukturen ist hier nicht eben weniger „heimlich“ als in Hölderlins
Aussicht. Im kompositorischen Nachvollzug der literatur- bzw. sprachwissenschaftlichen Analyse stellt Gervasonis Aussicht ein bemerkenswertes Beispiel dafür dar, dass die Rezeption eines Sekundärtextes von nicht geringerer Relevanz für die Vertonung sein kann als der Primärtext selbst.
Ute Schomerus